von Thomas Ax
Der völkerrechtswidrige Belehrungsausfall ist nach deutschem Strafprozessrecht ein Verfahrensfehler, auf den gemäß § 337 StPO eine Revision gestützt werden kann. Bereits hierdurch ist für den Regelfall sichergestellt, dass der Bruch des Völkerrechts nicht “folgenlos” (vgl. Schomburg/Schuster, NStZ 2008, S. 593 <594>) im Sinne der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs bleibt. Die Rechtsfolgen einer unterbliebenen Belehrung sind völkerrechtlich nicht im Einzelnen festgelegt (1). Es genügt daher den Vorgaben des Internationalen Gerichtshofs, den völkerrechtswidrigen Ausfall einer Belehrung als Verfahrensfehler zu begreifen, der im Rahmen der strafprozessualen Revision zu einer umfassenden Kontrolle des gesamten Strafurteils zwingt (2).
(1) Das Wiener Konsularrechtsübereinkommen enthält keine Vorgaben für die Frage, welche Rechtsfolgen ein Ausfall der Belehrung nach sich zieht (Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <496 f.>; Schomburg/Schuster, NStZ 2008, S. 593 <594>). Der Internationale Gerichtshof hat allerdings klargestellt, dass dem Bruch des Völkerrechts eine angemessene Wiedergutmachung folgen müsse (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 119: “reparationin an adequate form”). Es sei jedoch Sache der nationalen Gerichte, die Fakten und insbesondere die aus einer Verletzung des Wiener Konsularrechtsübereinkommens resultierenden Nachteile zu untersuchen und eine angemessene Rechtsfolge festzuschreiben. Eine Aufhebung der strafrechtlichen Verurteilung sei völkerrechtlich nicht zwingend geboten (vgl. IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 122, 124). Unter Umständen könne bereits eine förmliche Entschuldigung eine ausreichende Wiedergutmachung darstellen (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 63, 125). In Fällen, in denen die Betroffenen zu einer langjährigen Freiheitsentziehung verurteilt worden sind, sei dies jedoch nicht ausreichend; dann sei die erneute Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs geboten (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 125: “reviewand reconsideration of the conviction and sentence by taking account of the violation of the rights set forth in the conviction”). Dabei sei zu prüfen, ob dem Beschuldigten durch den Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 WÜK im Laufe des Strafverfahrens ein konkreter Nachteil entstanden sei (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 121: “with a view to ascertaining whether in each case the violation of Article 36 committed by the competent authorities caused actual prejudice to the defendant in the process of administration of criminal justice”).
(2) Diese Vorgaben des Internationalen Gerichtshofs zur Auslegung des Art. 36 Abs. 1 WÜK lassen sich im Rahmen einer methodisch vertretbaren Auslegung (vgl. BVerfGE 111, 307 <317>; BVerfGK 9, 174 <189>; 17, 390 <399>) ohne weiteres in das System der strafprozessualen Revisionsvorschriften integrieren.
Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs begründet Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK ein subjektives Recht des Betroffenen (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 77). Art 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK muss daher ein Recht des Angeklagten begründen, das seine verfahrensrechtliche Stellung konstituiert (BVerfGK 9, 174 <194>; 17, 390 <402>) und eine “review and reconsideration” der Entscheidung ermöglicht. Dies wird dadurch sichergestellt, dass ein Belehrungsausfall als solcher im Revisionsverfahren als relativer Revisionsgrund geltend gemacht werden kann (vgl. BGHSt 52, 110 <113>; Paulus, StV 2003, S. 57 <59>; Burchard, JZ 2007, S. 891 <893 f.>; Esser, JR 2008, S. 271 <277>; Kreß, GA 2007, S. 296 <306 f.>; Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <498>; Weigend, StV 2008, S. 39 <43>). Der Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK gestattet es somit, das gesamte Strafurteil, Schuld- und Strafausspruch, im Revisionsverfahren zu überprüfen und – mit Blick auf die unterbliebene Belehrung – neu zu bewerten (vgl. BGHSt 52, 110 <113 f.>).
Ein Unterbleiben der Belehrung kann – wie jeder andere Verfahrensfehler auch – mit der Verfahrensrüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 1, 1. Alternative StPO geltend gemacht werden (Esser, JR 2008, S. 271 <277>), die der Form des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechend begründet sein muss (vgl. BGHSt 52, 110 <111>). Dem steht nicht entgegen, dass prozessuale Hindernisse, die die Geltendmachung des Verfahrensverstoßes erschweren, am Effektivitätsgrundsatz des Art. 36 Abs. 2 WÜK zu messen sind (Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <498>). Für die Betroffenen muss die Möglichkeit bestehen, eine Verletzung des Art. 36 Abs. 1 WÜK prozessual vorzubringen, und diese Garantie darf durch das nationale Verfahrensrecht weder substantiell gefährdet noch förmlich ausgeschlossen werden (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 134; vgl. Esser, JR 2008, S. 271 <273>).
Die sich aus dem Verstoß gegen die Belehrungspflicht ergebenden Rechtsfolgen sind verfassungsrechtlich nicht festgelegt (vgl. BVerfGK 4, 283 <285>; 9, 174 <196>; 17, 390 <404>). Auch der Internationale Gerichtshof hat die Rechtsfolgen eines Verstoßes in das Ermessen des strafverfolgenden Staates gestellt (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 125; Fall Avena, a.a.O., Rn. 120 ff., 127, 141; vgl. Burchard, JZ 2007, S. 891 <893>; Esser, JR 2008, S. 271 <271 f.>; Weigend, StV 2008, S. 39 <42>), solange die Überprüfung und Neubewertung insgesamt hinreichend “effektiv” ist (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 138). Eine restitutio in integrum in dem Sinne, dass das Strafurteil in jedem Fall in vollem Umfang aufgehoben und der Prozess vollständig neu aufgerollt werden müsste, hat er nicht verlangt (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 121 ff.; Esser, JR 2008, S. 271 <273>; Weigend, StV 2008, S. 39 <42, Fn. 51>). Ein zwingendes Beweisverwertungsverbot, also ein Bewertungsverbot allein aufgrund der unterbliebenen Belehrung und unabhängig vom Vorliegen eines dadurch ursächlich verursachten Nachteils, gebietet das Völkerrecht nicht (BVerfGK 9, 174 <195>; Paulus, StV 2003, S. 57 <58, 59>; Kreß, GA 2007, S. 296 <304>; Esser, JR 2008, S. 271 <275>; Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <498>; Schomburg/Schuster, NStZ 2008, S. 593 <594>; Gless/Peters, StV 2011, S. 369 <372>). Vielmehr ist es ausreichend, wenn im Fall nachweisbarer Kausalität des Belehrungsausfalls für den Verfahrensausgang die Möglichkeit der Urteilskorrektur besteht (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 121 ff.; Weigend, StV 2008, S. 39 <42, Fn. 51>).
Dem Bundesgerichtshof ist es daher unbenommen, auf seine zu den Folgen von Verstößen gegen Belehrungspflichten entwickelte Rechtsprechung zurückzugreifen, wonach nicht jedes Verbot, einen Beweis zu erheben, zwingend ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht; die Entscheidung für oder gegen ein Verwertungsverbot ist vielmehr aufgrund einer Abwägung der im Rechtsstaatsprinzip angelegten gegenläufigen Gebote und Ziele zu treffen (BVerfGK 9, 174 <196>; 17, 390 <402 f.>; vgl. auch BVerfGE 122, 248 <257 f.>; 130, 1 <29, 40>).
Es ist vielmehr Aufgabe der Fachgerichte, die sich aus dem Unterbleiben einer Belehrung ergebenden Konsequenzen festzulegen (BVerfGK 9, 174 <196>). Bei der Frage nach einem Beweisverwertungsverbot im konkreten Fall handelt es sich daher um eine Frage der Anwendung einfachen Rechts, die grundsätzlich das Fachgericht zu beantworten hat (vgl. BVerfGK 9, 174 <197 f.>; 17, 390 <405>). Zu hohe Anforderungen an die Annahme eines Verwertungsverbots hinsichtlich rechtswidrig gewonnener Beweise können allerdings in das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren eingreifen (BVerfGK 9, 174 <189>; 17, 390 <399>).
Auch der Internationale Gerichtshof verlangt nicht nur einen tatsächlich entstandenen Nachteil für den Betroffenen, sondern darüber hinaus die Feststellung eines Ursachenzusammenhangs zwischen diesem Nachteil und der Verletzung des Völkerrechts (vgl. IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 122 f., 138: “in the causal sequence of events” bzw. “the possible prejudice caused by that violation”; vgl. Kreß, GA 2004, S. 691 <697 f.>). Fehlt es daran, so gibt es nichts dagegen zu erinnern, dass – wie in der angegriffenen Entscheidung – der Ausfall der Belehrung im Ergebnis ohne prozessuale Sanktion bleibt. Ausdrücklich verlangt der Internationale Gerichtshof nicht in jedem Fall eine Sanktionierung des Völkerrechtsverstoßes (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 139: “whatever may be the actual outcome of such review and reconsideration”).
Dass der Bundesgerichtshof die Gesichtspunkte des Nachteils und des Ursachenzusammenhangs in die Beruhensprüfung integriert hat, lässt einen Verstoß gegen diese Anforderungen und das Recht auf ein faires Verfahren nicht erkennen.