Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, dass es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen usw.. Hier passieren häufig Fehler.
I. Die gesetzliche Regelung
§ 136 StPO Erste Vernehmung
(1) Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, dass es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Möchte der Beschuldigte vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen, sind ihm Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auf bestehende anwaltliche Notdienste ist dabei hinzuweisen. Er ist ferner darüber zu belehren, dass er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und des § 142 Absatz 1 beantragen kann; zu Letzterem ist er dabei auf die Kostenfolge des § 465 hinzuweisen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.
II. Wann ist ein Beschuldigter zu belehren?
Ein Beschuldigter ist grundsätzlich v o r jeder Vernehmung zu belehren, also dann, wenn ihm ein Polizist/ eine Polizistin in amtlicher Funktion gegenüber tritt mit dem Ziel, Informationen zu erlangen. „Vorgespräche“ als solche gibt es nicht mit der Folge, dass der Beschuldigte stets vor eine etwaigen „Vorgespräch“ vollständig und korrekt zu belehren ist- ohne jedes Wenn und Aber! Erfolgt ein „Vorgespräch“ sollte immer dokumentiert werden
-der Beginn des Gesprächs
-der Inhalt des Gesprächs
-das Ende des Gesprächs
-Namen der Anwesenden.
III. Worüber ist er im Detail zu belehren?
1. Tatvorwurf
Gleich nach der Feststellung der Identität, noch vor der Belehrung hat die Eröffnung des Tatvorwurfs zu erfolgen. Wann soll der Beschuldigte wo konkret was gemacht/ unterlassen haben mit welchen Folgen? Es gehört zum Gebot des fairen Verfahrens, das dem Beschuldigten der Tatvorwurf so genau erklärt wird, dass er weiß, was ihm vorgeworfen wird.
2. Benennung der Strafvorschriften?
§ 163a StPO nimmt lediglich auf § 136 Absatz 1 Satz 2-6 Bezug, nicht auf Satz 1; der Wortlaut besagt also, dass Polizeibeamte nicht über die Strafvorschriften belehren müssen.
Unseres Erachtens gehört es aber zum Gebot des fairen Verfahrens, den Beschuldigten darüber aufzuklären, wegen was ermittelt wird. So macht es doch einen erheblichen Unterschied aus, ob gegen ihn wegen Totschlags oder Mordes ermittelt wird, bei Letzterem ist eine Strafmilderung aufgrund eines Geständnisses ausgeschlossen oder ob wegen einfachen Diebstahls oder eines Bandendiebstahls ermittelt wird, bei dem im Bereich der Telekommunikation tiefgreifende Grundrechtseingriffe möglich wären, um nur zwei Beispiele zu nennen.
3. Schweigerecht
Das A und O einer korrekten Beschuldigtenbelehrung ist mitzuteilen, dass der Beschuldigte keine Angaben machen muss, er muss sich nicht selber belasten und ein Schweigen darf nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.
4. Recht auf Konsultation eines Wahlverteidigers
Jeder Beschuldigte hat das Recht, zu jeder Zeit einen Wahlverteidiger, also einen Anwalt, den er sich selber aussucht und auch selber bezahlt, zuzuziehen.
5. Recht, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu stellen
Dieser Punkt ist in der Praxis fehlerträchtig. Vielen Beamt:innen ist unklar, was ein Pflichtverteidiger ist.
Daher zunächst eine Erklärung zum Unterschied Wahlverteidiger/ Pflichtverteidiger:
Der Beschuldigte kann in den Fällen der notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO) einen Rechtsanwalt frei wählen (wie Wahlverteidiger), muss den aber zunächst nicht bezahlen, sondern die Kosten übernimmt bis zur rechtskräftigen Verurteilung der Staat.
Dabei gilt der Grundsatz der freien Anwaltswahl. Jeder in Deutschland zugelassene Anwalt kann als Pflichtverteidiger arbeiten. Die finanziellen Verhältnisse des Beschuldigten sind völlig irrelevant.
Das Gesetz spricht ausdrücklich davon, dass der Beschuldigte einen Antrag stellen kann. Die Formulierung „Sie können beanspruchen“, die wir häufig in den Belehrungen finden (und die leider auch immer noch in alten, weiter verwendeten Formularen zu finden sind), trifft deshalb die Gesetzeslage nicht und ist falsch. (dazu im Detail Marquardt/ Oelfke, Basiswissen Strafprozess für Polizeibeamte).
Wichtig ist: Jeder! Beschuldigte ist über das Antragsrecht zu belehren. Die Polizei prüft nicht die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung.
Stellt der Beschuldigte den Antrag ausdrücklich, ist die Vernehmung abzubrechen und der Staatsanwalt zu informieren. Der Beschuldigte ist zu fragen, welcher Anwalt ihm beigeordnet werden soll.
Sodann wird der Staatsanwalt die Akten mit einer Stellungnahme an das Gericht weiterleiten, das die Beiordnung prüft und über den Antrag entscheidet.
Stellt der Beschuldigte keinen Antrag und ist aussagebereit, kann er grundsätzlich (Ausnahmen siehe unten) vernommen werden- auch bei einem Verbrechen!
6. Kostenfolge Pflichtverteidiger
Wird ein Pflichtverteidiger beigeordnet, übernimmt zunächst der Staat alle anfallenden Kosten. Wird das Verfahren eingestellt oder wird der Tatverdächtige freigesprochen, trägt die Landeskasse die Kosten. Im Falle der Verurteilung hat der Beschuldigte grundsätzlich die Kosten zu tragen, allerdings werden nicht immer die Kosten festgesetzt und auch beigetrieben.
Die korrekte Formulierung lautet deshalb: „Sie haben im Falle einer Verurteilung grundsätzlich die Kosten der Pflichtverteidigung zu tragen.“
7. Beweisantragsrecht
Der Beschuldigte ist darüber zu belehren, dass er jederzeit Beweiserhebungen beantragen kann.
Formulierungsvorschlag: Sie können jederzeit Beweiserhebungen beantragen, etwa: Wenn Sie für die Tatzeit etwa ein Alibi haben, sich an einem anderen Ort aufgehalten und dafür Zeugen haben, dann können Sie beantragen, dass diese Zeugen vernommen werden.
8. Kostenfolge für Beweiserhebungen
Der Beschuldigte ist darüber zu belehren, dass er grundsätzlich für Beweiserhebungen, die auf seine Anregung erfolgen, im Falle einer Verurteilung die dafür entstandenen Kosten zu tragen hat.
9. Hinweis auf die Möglichkeit schriftlicher Angaben
Der Vernehmungsbeamte kann diesen Hinweis erteilen bei Fällen, die er für eine etwaige schriftliche Einlassung geeignet hält.
10. Hinweis auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs
Auch dieser Hinweis wird nur in geeigneten Fällen erteilt, nicht bei schweren Straftaten, bei fehlendem Geständnis oder wenn das Opfer dazu nicht bereit ist.
11. Anwaltlicher Notdienst
Hierüber ist nicht zu belehren, wenn der Beschuldigte nicht die Hinzuziehung eines Anwalts wünscht, sondern nur, wenn
-der Beschuldigte den von ihm gewünschte Anwalt nicht erreichen kann
-er einen Anwalt wünscht, aber niemanden kennt.
12. Beiordnung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen
In manchen Fällen darf eine Vernehmung auch in den Fällen, in denen der Beschuldigte den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellt, nicht erfolgen bevor von Amts wegen beigeordnet wurde.
In welchen von Amts wegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, ist in § 141 Absatz 2 StPO geregelt.
Hier die wesentlichen und in der Praxis bedeutsamen Fälle, die jeder Polizeibeamte kennen muss:
a) Schwere psychische Erkrankungen des Beschuldigten aufgrund derer sich dieser nicht selber verteidigen kann
Typische Fälle sind: Beschuldigte, die an paranoider Schizophrenie erkrankt sin, Beschuldigte mit optischen/ akustischen Halluzinationen.
Wenn derartige Symptome erkennbar werden (das Wann und Wie ist zu protokollieren), ist die Vernehmung umgehend abzubrechen und Kontakt zum Staatsanwalt aufzunehmen, damit dieser die Beiordnung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen veranlasst.
b) Der Beschuldigte ist aufgrund richterlichen Beschlusses untergebracht
Betroffen sind Beschuldigte, die etwa in Straf-und Abschiebehaft sind, im Strafarrest, in der Unterbringung gem. §§ 64 (Entzug), 63 (psychiatrische Klinik), 66 (Sicherungsverwahrung) oder Unterbringung gem. PsychKG.
c) Richterliche Vernehmung von Zeugen im Ermittlungsverfahren
Wird im laufenden Ermittlungsverfahren ein Zeuge durch den Ermittlungsrichter vernommen, ist dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger von Amts wegen beizuordnen, weil u.U. dieser Zeuge später nicht mehr n der Hauptverhandlung vernommen wird (etwa die geschädigte Freundin des Beschuldigten, die sich kurz vor der Anklage mit dem Beschuldigten verlobt und sich in der Hauptverhandlung auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht als Verlobte beruft.).
d) Beschuldigter soll dem Haftrichter vorgeführt werden
Ab dem Moment, ab dem feststeht, dass Haftbefehl oder Unterbringungsbefehl beantragt werden soll, darf der Beschuldigte ohne vorherige Beiordnung eines Pflichtverteidigers –von Amts wegen- nicht mehr vernommen werden.
Das bedeutet:
Wird ein Haftbefehl vollstreckt, kann der Beschuldigte ohne Pflichtverteidiger nicht mehr vernommen werden.
Wird ein Beschuldigter vorläufig festgenommen werden, ist erst dann von Amts wegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn alle Ergebnisse der Ermittlungen vorliegen, die notwendig sind, um über die Frage entscheiden zu können, ob ein Antrag auf Erlass eines Haftbefehls/ Unterbringungsbefehls gestellt wird.
Achtung: Der Zeitpunkt darf nicht hinausgezögert werden! Dazu ein Beispiel:
Dem A wird zur Last gelegt die B vergewaltigt zu haben. Der Tatvorwurf beruht zunächst auf den Angaben der B im Rahmen der Anzeigenerstattung. Eine Durchsuchungsmaßnahme soll noch durchgeführt, Spuren sollen noch ausgewertet werden. A wird durch Polizeibeamte vorläufig festgenommen (§ 127 Abs. 2 StPO), die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls wurden also schon geprüft. Darf A nun durch die Polizeibeamten verantwortlich vernommen werden oder handelt es sich um einen Fall der zwingenden vorherigen Beiordnung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen (also auch dann, wenn der Beschuldigte trotz ordnungsgemäßer Belehrungen keinen solchen Antrag stellt)?
Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass die Polizeibeamten ja nicht über die Frage, ob der Beschuldigte dem Haftrichter vorgeführt werden soll, entscheiden würden, dies also noch gar nicht feststehe, eine Vernehmung daher erfolgen könne. Diese Entscheidung halten wir für vorschnell und fragwürdig, denn nicht selten wird die Staatsanwaltschaft erst am nächsten Tag und damit viel zu spät mit der Frage einer evtl. Vorführung befasst. Dieses „Hinauszögern“ der Entscheidung (um vernehmen zu können) ist nicht zulässig und wird nicht selten dazu führen, dass die Angaben, die der Beschuldigte dem Polizeibeamten gegenüber tätigt, nicht verwertet werden dürfen. Denn der Polizeibeamte hat bereits bei der Vornahme der vorläufigen Festnahme die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls festgestellt (sonst hätte er nicht festnehmen dürfen) und damit die Weichen gestellt.
e) Sonderproblem: Jugendliche/ Heranwachsende
§ 68 JGG (Notwendige Verteidigung)
Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn
- im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde,
- den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern ihre Rechte nach diesem Gesetz entzogen sind,
- die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter nach § 51 Abs. 2 von der Verhandlung ausgeschlossen worden sind und die Beeinträchtigung in der Wahrnehmung ihrer Rechte durch eine nachträgliche Unterrichtung (§ 51 Abs. 4 Satz)
- oder die Anwesenheit einer anderen geeigneten volljährigen Person nicht hinreichend ausgeglichen werden kann,
- zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand des Beschuldigten (§ 73) seine Unterbringung in einer Anstalt in Frage kommt oder
- die Verhängung einer Jugendstrafe oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt zu erwarten ist.
§ 68 a (Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers)
Absatz 1: In den Fällen der notwendigen Verteidigung wird dem Jugendlichen, der noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger spätestens bestellt, bevor eine Vernehmung des Jugendlichen oder eine Gegenüberstellung mit ihm durchgeführt wird. Dies gilt nicht, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung allein deshalb vorliegt, weil dem Jugendlichen ein Verbrechen zur Last gelegt wird, ein Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 Absatz 2 oder 3 zu erwarten ist und die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu dem in Satz 1 genannten Zeitpunkt auch unter Berücksichtigung des Wohls des Jugendlichen und der Umstände des Einzelfalls unverhältnismäßig wäre.
Absatz 2: § 141 Absatz 2 Satz 2 der Strafprozessordnung ist nicht anzuwenden.
§ 68 b (Vernehmung und Gegenüberstellung von der Bestellung eines Pflichtverteidigers)
Absatz 1: Abweichend von § 68 a Absatz 1 dürfen im Vorverfahren Vernehmungen des Jugendlichen oder Gegenüberstellungen mit ihm vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers durchgeführt werden, soweit dies auch unter Berücksichtigung des Wohls des Jugendlichen
- zur Abwehr schwerwiegender nachteiliger Auswirkungen auf Leib oder Leben oder die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist,
- ein sofortiges Handeln der Strafverfolgungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines sich auf eine schwere Straftat beziehenden Strafverfahrens abzuwenden.
Absatz 2: Das Recht des Jugendlichen, jederzeit, auch schon vor der Vernehmung, eine von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen, bleibt unberührt.
§ 109 JGG:
Absatz 1: Von den Vorschriften über das Jugendstrafverfahren (§§ 43 bis 81 a) sind im Verfahren gegen einen Heranwachsenden die §§ 43, 46 a, 47 a, 50 Absatz 3 und 4, die §§ 51 a, 68 Nummer 1, 4 und 5, die §§ 68 a, 68 b, 70 Absatz 2 und 3, die §§ 70 a, 70 b Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2, die §§ 70 c, 72 a bis 73 und 81 a entsprechend anzuwenden.
Vor der Vernehmung eines Jugendlichen/ Heranwachsenden (vgl. § 109 Absatz 1 Satz 1 JGG), wenn ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt (§ 68 Abs. 1 JGG).
13. Folgen falscher/ unvollständiger Belehrung
Es scheint nach wie vor verbreitete Meinung zu sein, dass es gleichgültig ist, ob ein Beschuldigter korrekt belehrt wird. Das ist mitnichten so, vielmehr führt eine fehlerhafte / unvollständige Belehrung grundsätzlich dazu, dass die Angaben, die ein Beschuldigter im Anschluss macht, nicht verwertbar sind.
Deshalb weisen wir in unseren Fortbildungsveranstaltu7ngen auf die Grundregel hin:
Wer nicht vollständig über die Voraussetzungen des § 136 StPO belehrt, arbeitet möglicherweise „für die Tonne“.
Die Tragweite der Fehler hängt davon ab, über welche Teile der Belehrung gem. § 136 StPO unvollständig/ falsch aufgeklärt worden ist und ob der Beschuldigte später in der Hauptverhandlung der Verwertung dieser Angaben (und dann auch der Aussage der Vernehmungsbeamten) widerspricht (was in der Regel der Fall sein wird).
Grundsätzlich gilt:
Wird ein Beschuldigter über den Tatvorwurf. den zugrundeliegenden Lebenssachverhalt. sein Schweigerecht. sein Recht, einen Wahlverteidiger zuzuziehen oder sein Recht, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellen zu können nicht belehrt oder wird dem Beschuldigten bei der Zuziehung eines Anwalts nicht geholfen, so folgt aus diesem Fehler grundsätzlich und mit wenigen Ausnahmen (dazu im Detail in Basiswissen Strafprozess für Polizeibeamte) ein absolutes Verwertungsverbot (Vernehmung also “für die Tonne“ und bitte nehmen Sie dieses ernst!)
Dasselbe gilt, wenn der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Belehrung/ Vernehmung verhandlungsunfähig war (etwa infolge starker Alkoholisierung oder schwere psychischer Erkrankung).
14. Dokumentation der Belehrung
Leider fallen die Angaben zum Belehrungsinhalt auf dem Vorblatt und im Protokoll häufig auseinander, was zu Nachfragen in der Hauptverhandlung führt. Wenn im Protokoll (was absolut sinnvoll ist) zu Beginn aufgeführt wird, worüber der Beschuldigte belehrt wurde, sollte dies vollständig sein und die tatsächlich erfolgte Belehrung korrekt wiedergeben.
Soweit in der Rechtsprechung ohne nähere Begründung davon ausgegangen wird, dass zunächst versagtes rechtliches Gehör nachgeholt (so BGH, Beschl. v. 11.01.2005 – 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519, 1520; für die Gewährung von Akteneinsicht durch das mit der Sache befasste Gericht vgl. BGH, Beschl. v. 10.10.1990 – 1 StE 9/88, NStZ 1991, 95) und ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht dadurch geheilt werden kann (so LG Stralsund, Beschl. v. 10.01.2005 – 22 Qs 475/04, juris Rn. 11), vermag die Kammer dem nicht zu folgen.
Die unterlassene Anhörung des Angeklagten stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der jedenfalls durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann (so zutreffend BVerfG, Beschl. v. 30.10.2016 – 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 4; implizit auch LG Krefeld, Beschl. v. 01.08.2008 – 21 AR 2/08, NStZ 2009, 112; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13 sub 3); AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290; so nunmehr auch KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör erfordert es, dass der durch eine staatliche Maßnahme Betroffene vor deren Erlass die Möglichkeit zur Stellungnahme erhält (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.11.1983 – 2 BvR 348/83, BVerfGE 65, 227 = NJW 1984, 719, juris Rn. 20; BeckOK-StPO/Larcher, § 33 Rn. 1). Im Hinblick hierauf ist für eine Heilung durch eine nachträgliche Gehörsgewährung kein Raum. Allenfalls könnte davon ausgegangen werden, dass auch unter Berücksichtigung des “nachgeholten Vorbringens” die Gewährung der Akteneinsicht im Ergebnis, also in materieller Hinsicht, zu Recht erfolgt ist, wobei in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage zu klären wäre, ob eine Aktenkenntnis des Verletzten in der Konstellation “Aussage-gegen-Aussage” der Gewährung von Akteneinsicht entgegensteht (vgl. hierzu etwa KG, Beschl. v. 21.11.2018 – 3 Ws 278/18, NStZ 2019, 110; LG Hamburg, Beschl. v. 23.04.2018 – 606 Qs 8/18, NStZ-RR 2018, 322; Baumhöfener/Daber/Wenske, NStZ 2017, 562 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 12 m.w.Nachw.).
Die Richtigkeit der Gewährung von Akteneinsicht in materieller Hinsicht mag im Rahmen etwaiger (Staats-)Haftungsansprüche des durch die Akteneinsicht Betroffenen von Bedeutung sein (“rechtmäßiges Alternativverhalten”), ändert aber nichts daran, dass die Gewährung der Akteneinsicht rechtswidrig erfolgt ist. Für die im Rahmen des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung maßgebliche Feststellung der Rechtswidrigkeit kommt es alleine darauf an, dass die durch die Staatsanwaltschaft gewährte Akteneinsicht in formeller Hinsicht rechtswidrig ist (vgl. LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 4; LG Krefeld, Beschl. v. 01.08.2008 – 21 AR 2/08, NStZ 2009, 112; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13 sub 3); AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290). Ebenso ist unerheblich, ob der Angeklagte bei Gewährung rechtlichen Gehörs etwas hätte vorbringen können, das die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in eine andere Richtung hätte beeinflussen können (vgl. AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290, juris Rn. 4).
Ob eine Gehörsverletzung durch Nachholung des rechtlichen Gehörs im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens geheilt werden kann (so KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438, juris Rn. 8; OLG Rostock, Beschl. v. 13.07.2017 – 20 Ws 146/17, juris Rn. 33; KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3) erscheint nach dem oben Gesagten zweifelhaft (zu Recht kritisch hierzu Köpferl, ZD 2018, 184, 185), bedarf aber in dem hier in Rede stehenden Verfahren auf gerichtliche Entscheidung keiner Klärung.
LG Aachen, Beschluss vom 11.10.2019 – 60 KLs-806 Js 589/16-12/19
1. Auf den Antrag auf gerichtliche Entscheidung, gestellt durch den Verteidiger des Angeklagten mit Schriftsatz vom 05.02.2018, wird festgestellt, dass die Gewährung von Akteneinsicht an Frau Rechtsanwältin XXXX als Bevollmächtigte der Geschädigten XXX durch die Staatsanwaltschaft Aachen in dem Ermittlungsverfahren 806 Js 589/16 gemäß Verfügung vom 14.07.2017 bezogen auf die Ermittlungsakte sowie gemäß Verfügung vom 27.11.2017 bezogen auf die Zweitakte jeweils rechtswidrig war.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Aachen hat auf eine Strafanzeige der (vermeintlich) Geschädigten vom 05.03.2016 hin gegen den Angeklagten unter dem Aktenzeichen 806 Js 589/16 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der sexuellen Nötigung, Nötigung und Freiheitsberaubung eingeleitet. In der Folgezeit versuchten Beamte des Polizeipräsidiums Aachen, eine Gefährderansprache mit dem Angeklagten durchzuführen, jedoch konnte dessen Aufenthaltsort nicht ermittelt werden. Am 05.03.2016 meldete sich der Angeklagte telefonisch bei der Kreispolizeibehörde XXX und teilte mit, dass er zurzeit “quasi ohne festen Wohnsitz” sei. Der Angeklagte hinterließ dabei seine aktuelle Mobilfunknummer.
Am 20.06.2016 hat die Staatsanwaltschaft Aachen die Geschädigte zeugenschaftlich vernommen. Mit Verfügung vom 02.01.2017 hat die Staatsanwaltschaft Aachen bei dem Amtsgericht Aachen den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeklagten mit der Begründung beantragt, der Angeklagte sei der Vergewaltigung sowie des erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit räuberischer Erpressung sowie der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil der Geschädigten dringend verdächtig. Am 03.01.2017 hat das Amtsgericht Aachen den Haftbefehl antragsgemäß erlassen.
Mit am 13.07.2017 bei der Staatsanwaltschaft Aachen eingegangenem Schriftsatz vom 11.07.2017 hat sich Frau Rechtsanwältin XXX für die Geschädigte bestellt und mitgeteilt, dass sich die Geschädigte dem Verfahren als Nebenklägerin anschließe und weiter beantragt, sie der Geschädigten als Beistand bereits im Ermittlungsverfahren beizuordnen. Weiter hat sie beantragt, ihr Akteneinsicht zu gewähren. Mit Verfügung vom 14.07.2017 (Bl. 247R GA) hat die Staatsanwaltschaft Aachen der Bevollmächtigten der Geschädigten antragsgemäß Akteneinsicht gewährt. Am 27.07.2017 hat die Bevollmächtigte der Geschädigten die Ermittlungsakte zurückgereicht. Mit Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 11.08.2017 ist der Geschädigten Frau Rechtsanwältin XXX als Beistand bestellt worden.
Am 08.11.2017 ist der Angeklagte in XXX festgenommen worden. Vor dem Amtsgericht XXX hat der Angeklagte mitgeteilt, seit dem 01.01.2017 unter der Anschrift XXXstraße 00 in 000 wohnhaft zu sein.
Mit Verfügung vom 27.11.2017 hat die Staatsanwaltschaft Aachen Anklage vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Aachen erhoben. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, sich der Vergewaltigung sowie des erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit räuberischer Erpressung sowie der vorsätzlichen Körperverletzung zum Nachteil der Geschädigten schuldig gemacht zu haben.
Mit Schriftsatz vom 30.11.2017 hat die Bevollmächtigte der Geschädigten die ihr “überlassene Akte” der Staatsanwaltschaft Aachen zurückgereicht. Auf dem Schriftsatz befindet sich der handschriftliche Zusatz “(II-Akte)”. Eine Verfügung der Staatsanwaltschaft Aachen über die Gewährung dieser Akteneinsicht befand sich zunächst nicht in der Verfahrensakte.
Mit Schriftsatz vom 05.02.2018 hat der Verteidiger des Angeklagten beantragt, die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen mangels hinreichenden Tatverdachts abzulehnen. Der Verteidiger des Angeklagten hat u.a. gerügt, dass die Staatsanwaltschaft Aachen der Bevollmächtigten der Geschädigten Akteneinsicht gewährt habe, obwohl eine “Aussage-gegen-Aussage-Konstellation” vorliege. Für das weitere Akteneinsichtsgesuch habe zudem kein entsprechender Antrag der Bevollmächtigten der Geschädigten vorgelegen. Bei der Gewährung der Akteneinsicht sei zudem jeweils das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör verletzt worden.
Der Verteidiger des Angeklagten beantragt,
festzustellen, dass die an die Nebenklägerin erteilte Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft Aachen unter dem 14.07.2017, aber auch die weitere Akteneinsicht an die Nebenklägervertreterin mutmaßlich Anfang Dezember 2017, rechtswidrig waren.
Mit Verfügung vom 06.02.2018 hat die Staatsanwaltschaft Aachen auf den Schriftsatz des Verteidigers des Angeklagten vom 05.02.2018 Stellung genommen und mitgeteilt, dass die zulässige Beschwerde unbegründet sei, da das berechtigte Interesse der nebenklageberechtigten Zeugin bzw. ihrer Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwältin offenkundig gegeben gewesen und noch sei.
Mit Verfügung vom 11.09.2019 hat die Kammer die Staatsanwaltschaft um Mitteilung gebeten, aus welchem Grund der Nebenklägervertreterin Ende November 2017 erneut Akteneinsicht gewährt worden ist. Mit Verfügung vom 07.10.2019 hat die Staatsanwaltschaft der Verfahrensakte aus der Zweitakte eine Verfügung vom “27.11.” beigefügt (Bl. 513R GA), wonach die Zweitakte der Nebenklägervertreterin “gem. pers. Erörterung zugesandt” wurde.
II.
1. Der weder an eine besondere Form noch eine Frist gebundene Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 05.02.2018 gegen die im Tenor bezeichneten Verfügungen der Staatsanwaltschaft Aachen vom 14.07.2017 und vom 27.11.2017 ist gemäß §§ 406e Abs. 4 Satz 2, 162 Abs. 3 Satz 1 StPO zulässig.
a) Nach der Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft Aachen ist die Kammer als das mit der Sache befasste Gericht gemäß § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO zur Entscheidung über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung berufen (vgl. L-R/Wenske, StPO, 26. Aufl. 2014, § 406e Rn. 7).
b) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist darüber hinaus nicht deshalb unzulässig, weil die beanstandete Akteneinsicht bereits vollzogen worden und damit eine prozessuale Überholung eingetreten ist. Da dem Angeklagten vor der Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft Aachen kein rechtliches Gehör gewährt worden ist, ist ihm jede Möglichkeit genommen worden, vor dem Vollzug der Akteneinsicht seine Rechte geltend zu machen. In einem solchen Fall besteht unabhängig von der Frage, ob bei einer nach § 406e StPO gewährten Akteneinsicht eine vorherige Anhörung des Beschuldigten rechtlich geboten ist, ein Rechtsschutzbedürfnis für die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Bewilligung von Akteneinsicht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.01.2017 – 1 BvR 1259/16, NJW 2017, 1164, juris Rn. 15; KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438, juris Rn. 6; LG Stralsund, Beschl. v. 10.01.2005 – 22 Qs 475/04, juris Rn. 3; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 12; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 21; KK-StPO/Zabeck, 8. Aufl. 2019, § 406e Rn. 13; KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3; Sankol, MMR 2008, 836).
2. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 05.02.2018 ist darüber hinaus begründet. Die von der Staatsanwaltschaft Aachen gewährte Akteneinsicht stellt sich in beiden Fällen als rechtswidrig dar, weil dem Angeklagten vor der Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht jeweils kein rechtliches Gehör gewährt worden ist.
a) Die Gewährung von Akteneinsicht im Strafverfahren an Dritte erfordert regelmäßig die vorherige Anhörung des Beschuldigten, weil sie mit einem Eingriff in Grundrechtspositionen des Beschuldigten, namentlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG, verbunden ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.01.2017 – 1 BvR 1259/16, NJW 2017, 1164, juris Rn. 17; BVerfG, Beschl. v. 30.10.2016 – 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5; BVerfG, Beschl. v. 15.04.2005 – 2 BvR 465/05, NStZ-RR 2005, 242, juris Rn. 12; BVerfG, Beschl. v. 26.10.2006 – 2 BvR 67/06, NJW 2007, 1052, juris Rn. 9; KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438, juris Rn. 6; LG Karlsruhe, Beschl. v. 25.09.2009 – 2 AR 4/09, juris Rn. 24; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 3; AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290, juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 18; KK-StPO/Zabeck, 8. Aufl. 2019, § 406e Rn. 12; KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3; MüKo-StPO/Grau, 1. Aufl. 2019, § 406e Rn. 20; L-R/Wenske, StPO, 26. Aufl. 2014, § 406e Rn. 4). Bei einer Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht durch den Vorsitzenden des mit der Sache befassten Gerichts ergibt sich die Anhörungspflicht unmittelbar aus § 33 Abs. 3 StPO, bei einer Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft aus einer analogen Anwendung der vorgenannten Bestimmung (vgl. OLG Rostock, Beschl. v. 13.07.2017 – 20 Ws 146/17, juris Rn. 32; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 18; KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3) bzw. aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. hierzu Riedel/Wallau, NStZ 2003, 393, 397 f.; zu den Anhörungspflichten in Verfahren vor dem Rechtspfleger vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.01.2000 – 1 BvR 321/96, BVerfGE 101, 397 = NJW 2000, 1709). Die Anhörungspflicht folgt ferner aus dem Gebot der Sachaufklärung im Hinblick auf möglicherweise bestehende Versagungsgründe und der nach § 406e Abs. 2 StPO erforderlichen Interessenabwägung (vgl. KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438, juris Rn. 6; L-R/Wenske, StPO, 26. Aufl. 2014, § 406e Rn. 4; Sankol, MMR 2008, 836, 837).
b) Ein Grund, von einer vorherigen Anhörung des Angeklagten abzusehen, lag jeweils nicht vor.
(1) Soweit die Staatsanwaltschaft der Nebenklägervertreterin mit Verfügung vom 14.07.2017 Akteneinsicht gewährt hat, war eine vorherige Anhörung des Angeklagten entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht deshalb entbehrlich, weil sein Aufenthaltsort zu diesem Zeitpunkt unbekannt gewesen ist. Von einer Anhörung kann zwar gemäß § 33 Abs. 4 Satz 1 StPO analog abgesehen werden, wenn der Anhörung tatsächliche Gründe entgegenstehen, etwa der Aufenthaltsort des Beteiligten nicht bekannt ist (vgl. MüKo-StPO/Valerius, 1. Aufl. 2014, § 33 Rn. 33; BeckOK-StPO/Larcher, § 33 Rn. 13; KK-StPO/Maul, 8. Aufl. 2019, § 33 Rn. 13). Darüber hinaus haben die bis zum Zeitpunkt der Gewährung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft durchgeführten Ermittlungen ergeben, dass der genaue Aufenthaltsort des Angeklagten, für den sich zu diesem Zeitpunkt ein Verteidiger noch nicht bestellt hatte, unbekannt gewesen ist. Jedoch hat die Staatsanwaltschaft vor der Gewährung der Akteneinsicht weder eine Aufenthaltsermittlung veranlasst, noch hat sie die gemäß Vermerk der Kreispolizeibehörde XXX vom 05.03.2016 (Bl. 10 GA) aktenkundig gemachte Mobilfunknummer genutzt, um entweder den genauen Aufenthaltsort des Angeklagten zu ermitteln oder eine mündliche Anhörung zu dem Akteneinsichtsgesuch durchzuführen. Eine solche Aufenthaltsermittlung war nicht nur naheliegend, sondern auch geboten. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Durchführung einer Aufenthaltsermittlung offensichtlich aussichtslos gewesen ist, zumal der Angeklagte im Rahmen der Verkündung des Haftbefehls vor dem Amtsgericht XXX angegeben hat, bereits seit dem 01.01.2017 in XXX wohnhaft zu sein. Dass die von der Nebenklägervertreterin begehrte Akteneinsicht eilbedürftig und die Durchführung einer vorherigen Aufenthaltsermittlung daher nicht möglich gewesen ist, lässt sich weder der Ermittlungsakte entnehmen, noch ist dies sonst ersichtlich. Auch kann entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht davon ausgegangen werden, dass der in Haftsachen in besonderem Maße geltende Beschleunigungsgrundsatz einer vorherigen Gewährung rechtlichen Gehörs entgegenstand. Abgesehen davon, dass sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Beantragung der Akteneinsicht durch die Nebenklägervertreterin noch nicht in Untersuchungshaft befunden hat, ist nicht ersichtlich, dass die Durchführung einer Aufenthaltsermittlung sowie eine sich anschließende Gewährung rechtlichen Gehörs zu dem Akteneinsichtsgesuch das Verfahren in einem nennenswerten Umfang verzögert hätte.
Darüber hinaus kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine vorherige Anhörung des Angeklagten gemäß § 33 Abs. 4 Satz 1 StPO deshalb unterbleiben durfte, weil diese den Zweck der Anordnung einer Maßnahme gefährden würde. Dem Angeklagten war ausweislich des Vermerks der Kreispolizeibehörde XXX vom 05.03.2016 (Bl. 10 GA) bereits zum damaligen Zeitpunkt bekannt, dass und aus welchem Grund gegen ihn ein Ermittlungsverfahren geführt worden ist.
Da nach dem Gesagten Gründe, von einer vorherigen Anhörung des Angeklagten abzusehen, nicht gegeben sind, kann dahinstehen, ob und wie es sich auswirkt, dass sich der Verfügung der Staatsanwaltschaft Aachen vom 14.07.2017 nicht, jedenfalls nicht erkennbar entnehmen lässt, aus welchem Grund seinerzeit von einer vorherigen Anhörung des Angeklagten abgesehen worden ist.
(2) Soweit die Staatsanwaltschaft der Nebenklägervertreterin mit Verfügung vom 27.11.2017 ein weiteres Mal Akteneinsicht ohne vorherige Anhörung des Angeklagten gewährt hat, kann dahinstehen, ob sich die Rechtswidrigkeit bereits daraus ergibt, dass kein (ordnungsgemäßer) Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht durch die Nebenklägervertreterin gestellt bzw. aktenkundig gemacht worden ist (vgl. hierzu LG Osnabrück, Beschl. v. 22.08.2008 – 2 AR 7/08, juris Rn. 3). Denn selbst wenn man insoweit im Hinblick auf die von der Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 07.10.2019 zur Verfahrensakte gereichte Verfügung vom “27.11.” davon ausgehen wollte, dass ein entsprechender Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht in der “persönlichen Erörterung” zu sehen ist, ergibt sich die Rechtswidrigkeit der Akteneinsicht wiederum jedenfalls daraus, dass eine vorherige Anhörung des Angeklagten nicht erfolgt ist. Auch insoweit sind Gründe, die einer vorherigen Anhörung des Angeklagten entgegenstehen, nicht ersichtlich. Für den Angeklagten hatte sich zu diesem Zeitpunkt Frau Rechtsanwältin XXX als Verteidigerin bestellt, weshalb eine Anhörung der Verteidigerin hätte erfolgen können (vgl. MüKo-StPO/Valerius, 1. Aufl. 2014, § 33 Rn. 30).
c) Der festgestellte Verstoß gegen die Pflicht zur Anhörung des Beschuldigten vor Gewährung der Akteneinsicht kann durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden.
Soweit in der Rechtsprechung ohne nähere Begründung davon ausgegangen wird, dass zunächst versagtes rechtliches Gehör nachgeholt (so BGH, Beschl. v. 11.01.2005 – 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519, 1520; für die Gewährung von Akteneinsicht durch das mit der Sache befasste Gericht vgl. BGH, Beschl. v. 10.10.1990 – 1 StE 9/88, NStZ 1991, 95) und ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht dadurch geheilt werden kann (so LG Stralsund, Beschl. v. 10.01.2005 – 22 Qs 475/04, juris Rn. 11), vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Die unterlassene Anhörung des Angeklagten stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der jedenfalls durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann (so zutreffend BVerfG, Beschl. v. 30.10.2016 – 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 4; implizit auch LG Krefeld, Beschl. v. 01.08.2008 – 21 AR 2/08, NStZ 2009, 112; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13 sub 3); AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290; so nunmehr auch KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3). Der Anspruch auf rechtliches Gehör erfordert es, dass der durch eine staatliche Maßnahme Betroffene vor deren Erlass die Möglichkeit zur Stellungnahme erhält (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.11.1983 – 2 BvR 348/83, BVerfGE 65, 227 = NJW 1984, 719, juris Rn. 20; BeckOK-StPO/Larcher, § 33 Rn. 1). Im Hinblick hierauf ist für eine Heilung durch eine nachträgliche Gehörsgewährung kein Raum. Allenfalls könnte davon ausgegangen werden, dass auch unter Berücksichtigung des “nachgeholten Vorbringens” die Gewährung der Akteneinsicht im Ergebnis, also in materieller Hinsicht, zu Recht erfolgt ist, wobei in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage zu klären wäre, ob eine Aktenkenntnis des Verletzten in der Konstellation “Aussagegegen-Aussage” der Gewährung von Akteneinsicht entgegensteht (vgl. hierzu etwa KG, Beschl. v. 21.11.2018 – 3 Ws 278/18, NStZ 2019, 110; LG Hamburg, Beschl. v. 23.04.2018 – 606 Qs 8/18, NStZ-RR 2018, 322; Baumhöfener/Daber/Wenske, NStZ 2017, 562 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 12 m.w.Nachw.). Die Richtigkeit der Gewährung von Akteneinsicht in materieller Hinsicht mag im Rahmen etwaiger (Staats-)Haftungsansprüche des durch die Akteneinsicht Betroffenen von Bedeutung sein (“rechtmäßiges Alternativverhalten”), ändert aber nichts daran, dass die Gewährung der Akteneinsicht rechtswidrig erfolgt ist. Für die im Rahmen des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung maßgebliche Feststellung der Rechtswidrigkeit kommt es alleine darauf an, dass die durch die Staatsanwaltschaft gewährte Akteneinsicht in formeller Hinsicht rechtswidrig ist (vgl. LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 4; LG Krefeld, Beschl. v. 01.08.2008 – 21 AR 2/08, NStZ 2009, 112; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13 sub 3); AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290). Ebenso ist unerheblich, ob der Angeklagte bei Gewährung rechtlichen Gehörs etwas hätte vorbringen können, das die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in eine andere Richtung hätte beeinflussen können (vgl. AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290, juris Rn. 4).
Ob eine Gehörsverletzung durch Nachholung des rechtlichen Gehörs im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens geheilt werden kann (so KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438, juris Rn. 8; OLG Rostock, Beschl. v. 13.07.2017 – 20 Ws 146/17, juris Rn. 33; KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3) erscheint nach dem oben Gesagten zweifelhaft (zu Recht kritisch hierzu Köpferl, ZD 2018, 184, 185), bedarf aber in dem hier in Rede stehenden Verfahren auf gerichtliche Entscheidung keiner Klärung.
d) Soweit die Staatsanwaltschaft Aachen der Auffassung ist, dass die damalige Verteidigerin des Angeklagten über die im Juli 2017 erfolgte Akteneinsicht bereits durch Gewährung der ihr am 13.11.2017 überlassenen Akte informiert worden ist und vor dem Hintergrund der bereits “vor Monaten gewährten Akteneinsicht an die Rechtsanwältin der Nebenklägerin und dem damit zum Ausdruck gekommenen fehlenden Versagungsgrund” das Anhörungsrecht gewahrt worden sei, vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Nach dem oben Gesagten erfordert der Anspruch auf rechtliches Gehör es, dass der durch eine staatliche Maßnahme Betroffene vor deren Erlass die Möglichkeit zur Stellungnahme erhält (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.11.1983 – 2 BvR 348/83, BVerfGE 65, 227 = NJW 1984, 719, juris Rn. 20; BeckOK-StPO/Larcher, § 33 Rn. 1). Im Hinblick hierauf vermag eine nachträgliche Kenntnisnahme der ohne Anhörung erfolgten Akteneinsicht die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von vorneherein nicht zu heilen. Auch kommt es nach dem oben Gesagten nicht darauf an, ob der Angeklagte bei Gewährung rechtlichen Gehörs etwas hätte vorbringen können, das die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in eine andere Richtung hätte beeinflussen können. Entsprechendes gilt, soweit die Staatsanwaltschaft sodann erneut im November 2017 Akteneinsicht ohne vorherige Anhörung des Angeklagten gewährt hat.
3. Die Kammer weist vorsorglich darauf hin, dass aus der festgestellten Rechtswidrigkeit der Akteneinsichtsgewährung für das vorliegende Strafverfahren kein Beweisverwertungsverbot folgt, da ein solches regelmäßig einen rechtswidrigen Beweiserhebungsakt voraussetzt. Die Gewährung von Akteneinsicht stellt aber keine Beweiserhebung dar. Aktenkenntnis, im Übrigen auch wenn sie auf zu Recht gewährte Akteneinsicht zurückgeht, ist erforderlichenfalls bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschl. v. 11.01.2005 – 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519, 1520; L-R/Wenske, StPO, 26. Aufl. 2014, § 406e Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 21; KK-StPO/Zabeck, 8. Aufl. 2019, § 406e Rn. 13; MüKo-StPO/Grau, 1. Aufl. 2019, § 406e Rn. 22).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 406e Abs. 4 Satz 3, 473a StPO.
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